Ästhetische Welterfahrung

Text:

Wolfgang Welsch

Ästhetische Welterfahrung

Copyright 2016: Wilhelm Fink, Paderborn

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[…] Bekanntlich sieht man reines Schwarz nicht als Farbfläche, sondern als reine Tiefe. In dem Moment, wo der Blick des Betrachters sich auf das schwarze Quadrat konzentriert und das Schwarz wirklich als Schwarz gewahr wird, verliert der Blick jeden Anhalt an der Oberfläche und schießt in die Tiefe, er wird wie durch einen quadratischen Schacht im Nu ins Unendliche rausgezogen.

 

Das ist eine nicht Einfachhin angenehme, sondern eine erschütternde und beängstigende Erfahrung. Aber Sie vermittelt genau das, worauf es Malerisch ankam: uns eine kosmische Dimension erfahren zu lassen – und zwar nicht in der gewohnten, menschlich zurecht gemachten Art eines eines nach Bildern eingeteilten Sternenhimmels, sondern in ihrer Reinheit und Absolutheit, als Welt dunkler Unendlichkeit.

S. 12

 

[…] Mahler ging schließlich, was das Verhältnis zur Welt angeht, sogar noch einen Schritt weiter. Er kehrte die gewohnte Perspektive um. Ist der Künstler - als autonomer Kreator - ein Weltenbauer, gar ein Welterschaffer? Nein, meinte Mahler. Indem der Künstler die Welt aufbaut, agiert er eher als Medium der Welt: „man ist sozusagen selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt.“ „Ich sehe immer mehr: man komponiert nicht, man wird komponiert.“

S. 17

 

[…] Die ästhetische Aufgabe besteht generell in der Erzeugung von Stimmigkeit. Und darum geht es auch im individuellen Leben, in der Familie, in der Gesellschaft. Stimmigkeit bedeutet: Man Mus das rechte Verhältnis von Vielheit und Unterschiedlichkeit einerseits und Gemeinsamkeit und Verbundensein anderseits finden. Diese Strukturgleichheit zwischen ästhetischen und ethischem Gelingen macht verständlich, dass Kunstwerke zugleich das richtige Leben präfigurieren können – weshalb man oft die Ästhetik als einen Weg zu einer angemessenen Ethik aufgefasst hat.

S. 22

 

[…] In der Tat geben die heutigen Theorien des Kosmos und der Evolution Duchamp in der Auffassung, dass der Zufall ein Grundprinzip Welt darstelle, völlig recht. Wir Menschen wollen aber das im Allgemeinen nicht wahrhaben. Wir verstehen uns gerne noch in allem, was wir geworden sind, als konsequente Produkte einer individualisierten Entwicklung. Dabei sind doch so viele Entscheidungen, die zu unserer jetzigen Existenz geführt haben, völlig zufallsbedingt gewesen.

 

Z.B.: Nach der ersten Tausendstelsekunde nach dem Urknall war eine bedeutsame Entscheidung hinsichtlich der Art unseres Universums gefallen. Quarks und Antiquarks hatten sich zum größten Teil selbst vernichtet, aber es blieben zufälligerweise minimal (ca. Ein Milliardstel) mehr Quarks als Antiquarks übrig; aus diesem geringfügigen Überschuss bildeten sich dann Protonen und Neutronen und letztlich die gesamte Materie unseres Universums. Das ist also der zufällige Grund, warum unser Universum ein Universum aus Materie und nicht aus Antimaterie ist.

S. 24

 

[…] Ethik der Ästhetik

Wer durch die Schule der Kunst gegangen ist und in seinem Denken der aisthesis Raum gibt, der weiß nicht nur abstrakt um die Spezifität und Begrenztheit aller Konzepte (auch seines eigenen), sondern rechnet damit und handelt demgemäß. Er urteilt und verurteilt nicht mehr mit dem Pathos der Absolutheit unter der Einbildung der Endgültigkeit, sondern erkennt auch den anderen mögliche Wahrheit grundsätzlich zu – noch gegen die eigene Entscheidung. Er ist nicht nur prinzipiell davon überzeugt, dass die Lage aus anderer Perspektive sich mit gleichem Recht ganz anders darstellen kann, sondern dieses Bewusstsein geht in seine konkrete Entscheidung und Praxis ein – und bewirkt nicht etwa deren Stilllegung, sondern versieht sie mit einem Schuss Vorläufigkeit und einem Kran Leichtigkeit. Er achtet den Unterliegenden, vermutet einen Rechtskern im Unrecht scheinenden, rechnet wirklich mit Andersheit.

S. 30

 

[…] Kunst ist eine Strategie der Tour und damit der Wirklichkeit selbst. Die Kunst hat ursprünglich kein oppositives, sondern ein Implikatives für das Verhältnis zur Wirklichkeit.  

S. 94

 

 
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