[…] Proust kommt zu einer Fehleinschätzung dessen, was die Fotografie ist: nicht so sehr ein Werkzeug der Erinnerung nämlich, als vielmehr eine Erfindung oder ein Ersatz dieser Erinnerung.
S. 77
[…] Erinnerung beinhaltet in gewisser Hinsicht einen Akt der Erlösung. Was erinnert wird, ist vor dem reinen Nichts gerettet. Was vergessen ist, ist aufgegeben worden.
S. 81
[…] Ein solches Schauspiel hat eine ewige Gegenwart unmittelbarer Erwartung zur Folge: Erinnerung ist nicht mehr nötig oder wünschenswert. Und mit dem Verlust der Erinnerung geht uns auch der fortlaufende Zusammenhang von Bedeutung und Beurteilung verloren. Die Kamera enthebt uns der Mühe der Erinnerung. Sie wacht über uns wie Gott, und sie wacht für uns wie Gott. Doch ist kein anderer Gott so zynisch gewesen, denn die Kamera erinnert, um zu vergessen. Susan Sontag weist diesem Gott einen klaren Platz in der Geschichte zu. Er ist der Gott des Monopolkapitalismus.
S.82
[…] Eine kapitalistische Gesellschaft braucht eine Kultur, die auf Bildern basiert. Sie muss unentwegt Unterhaltung bieten, um zum Kauf anzuregen und den Schmerz der Wunden zu betäuben, die durch Klassen-, Rassen- und Sexualprobleme gerissen werden. Und sie muss unbegrenzte Mengen an Information sammeln, um desto besser die natürlichen Quellen ausbeuten, die Produktivität steigern, die Ordnung aufrechterhalten, Krieg führen und Bürokraten mit Jobs versorgen zu können. Durch ihre Fähigkeit, die Realität einerseits zu subjektivieren und andererseits zu objektivieren, entspricht die Kamera diesen Bedürfnissen in idealer Weise und trägt gleichzeitig zu ihrer Verstärkung bei.
S. 82
[…] Wenn man sich an etwas erinnert, kann man das nicht nur auf eine Weise tun. Das Erinnerte ist nicht einem Endpunkt am Schluss einer Linie vergleichbar. Es gibt verschiedene Möglichkeiten und Stimuli, die alle zu dieser Erinnerung führen und in ihr zusammenkommen. Entsprechend müssen auch Worte, Vergleiche und Zeichen einen Kontext für ein gedrucktes Foto schaffen; das heißt, sie müssen verschiedene Annäherungsmöglichkeiten bezeichnen und eröffnen. Um die Fotografie herum muss ein Radialsystem errichtet werden, so dass man sie gleichzeitig unter den verschiedensten Aspekten sehen kann: persönlich, politisch, ökonomisch, dramatisch, alltäglich und historisch.
S. 88
[…]Gleichermaßen ist das fotografierte Abbild des Ereignisses, wenn es als Fotografie vorliegt, Teil einer kulturellen Gestaltung. Es gehört zu einer spezifischen sozialen Situation, zu dem Leben des Fotografen, zu einem Argument, einem Experiment, einer Art, die Welt zu erklären, einem Buch, einer Zeitung, einer Ausstellung.
S. 95
[…] Und jeder, lauscht einem Orakel, auch wenn er in Begleitung ist, für sich allein.
All Images © Mick Morley